Die zunehmende Verflechtung der Weltwirtschaft war in den letzten 50 Jahren einer der wichtigsten Wirtschaftstrends. Doch eine Reihe jüngster Entwicklungen - vom zunehmenden Protektionismus in den USA über die Covid-19-Pandemie bis hin zum Einmarsch Russlands in der Ukraine - drohen den Globalisierungsprozess ins Gegenteil zu verkehren.
Widerstandsfähigkeit der Lieferkette und Fernarbeit
In den letzten Jahrzehnten waren mehrere Schwellenländer - vor allem China und Indien - die Hauptnutznießer westlicher Unternehmen, die zur Kostensenkung und Effizienzsteigerung Tätigkeiten von der Fertigung bis zum Kundendienst auslagerten. Doch gerade die Pandemie hat die potenzielle Anfälligkeit von Lieferketten über weite Entfernungen deutlich gemacht, die zwischen 2020 und 2022 von Fabrikschließungen in ganz Asien, Verspätungen bei der Verschiffung und weltweitem Arbeitskräftemangel betroffen sein werden. Dies hat das Interesse am "Nearshoring" geweckt, bei dem Waren in größerer Nähe zu den Endmärkten produziert oder Materialien beschafft werden, wo sie dann verkauft werden. Die anhaltenden Spannungen zwischen den USA und China im Zusammenhang mit der Halbleiterproduktion waren ein weiterer Auslöser dafür, dass Unternehmen im Technologiesektor und andere fortschrittliche Hersteller ihre bestehenden Beschaffungspraktiken überdachten.
In anderen Bereichen haben Trends aus der Covid-19-Ära, wie die Zunahme der Fernarbeit, die Kosten für die Erbringung bestimmter Dienstleistungen bis zu einem gewissen Grad angeglichen. So haben beispielsweise in Indien ansässige IT-Dienstleister möglicherweise keinen so großen Kostenvorteil mehr, da Unternehmen in Europa und Nordamerika ihren Bedarf an Büroräumen für lokale Mitarbeiter senken konnten.
Chancen für aufstrebende Märkte
Solche Entwicklungen sind jedoch nicht zwangsläufig negativ für die Schwellenländer, und die Anleger können davon ausgehen, dass sich im Zuge dieser Trends viele neue Möglichkeiten ergeben. Die jüngsten Erfahrungen in Mexiko sind ein gutes Beispiel dafür: Da die in den USA ansässigen Fahrzeughersteller versuchen, ihre Lieferketten robuster zu gestalten und die Produktion näher an den nordamerikanischen Markt zu bringen, ist die Automobilindustrie in Nuevo Leon rasch gewachsen. Dies hat dazu beigetragen, dass Mexiko China und Kanada als wichtigster internationaler Handelspartner der USA überholt hat. Auch das Wachstum der mexikanischen Flughäfen, Banken und Immobiliengesellschaften wird dadurch gefördert.
In der Zwischenzeit haben die chinesische Null-Covid-Politik und die bis in die zweite Jahreshälfte 2022 andauernden Schließungen zahlreiche Großkonzerne in Japan und Südkorea dazu veranlasst, ihre Abhängigkeit von chinesischen Produktions- und Versandzentren zu überdenken und sich anderen Schwellenländern wie Vietnam und Indonesien zuzuwenden. Vietnam hat seinen Ruf als führendes Zentrum für die Herstellung und den Export von Elektronik in den letzten Jahren erheblich verbessert. Dies wurde auch durch ein Freihandelsabkommen mit der EU begünstigt, das im August 2020 in Kraft trat. Andernorts versucht die indonesische Regierung, die Wertschöpfungskette zu verbessern, indem sie die reichhaltigen natürlichen Ressourcen des Landes nutzt. So nutzt das Land beispielsweise seine Nickelvorkommen, um sich zu einem Produktionszentrum für Batterien für Elektrofahrzeuge zu entwickeln.
Die sich entwickelnden Rahmenbedingungen in China und Indien
Während China und Indien bisher wohl die größten Nutznießer der Globalisierung waren, werden die oben beschriebenen Veränderungen einige ihrer Geschäftsmodelle bedrohen. In beiden Volkswirtschaften zeichnen sich jedoch bereits neue Wachstumsquellen ab.
Andere potenzielle Wachstumsquellen
Der globale Wandel schafft auch anderswo in der Welt neue Möglichkeiten. Singapur zum Beispiel versucht, seinen Status als Asiens Finanzdienstleistungszentrum zu festigen, nachdem Hongkong seine politische Unabhängigkeit verloren hat. Brasilien wiederum verfügt über reichlich natürliche Ressourcen und einen florierenden Sektor für erneuerbare Energien. Es hat auch das Potenzial, vom "Friendshoring" zu profitieren, bei dem europäische oder nordamerikanische Unternehmen mit Partnern aus Ländern zusammenarbeiten, die ihnen in politischer Hinsicht sympathischer sind. Das Wachstum in Brasilien könnte jedoch durch den relativ hohen bürokratischen Aufwand und die zweideutige außenpolitische Haltung des Landes zu Themen wie dem Russland-Ukraine-Konflikt behindert werden. Auch die Aussichten für Taiwan sind komplex. Das Land rühmt sich eines weltweit führenden Halbleitersektors, doch die Spannungen in den Beziehungen zu China sorgen für Unsicherheit und Risiken.
Das Tempo der technologischen und geopolitischen Entwicklungen macht es schwierig vorherzusagen, wie bestehende Branchen in den kommenden Jahren umgestaltet werden könnten. Dies gilt auch für die Anlagechancen, die sich ergeben, wenn Unternehmen und Regierungen in den Schwellenländern auf die neuesten thematischen Trends reagieren und diese nutzen wollen. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Anleger auf diese Veränderungen achten und ihre Portfolios entsprechend anpassen.